Die App Red Alert warnt Nutzer vor Raketeneinschhlägen in Israel. Während des Gazakriegs holten sich Hunderttausende die App. Im Interview spricht Entwickler Ari Sprung aus Jerusalem darüber, wie er den Run auf seine App erlebt hat und warum Red Alert auch nach dem Gazakrieg gefragt ist.

Netzkolumnistin: Deine App warnt Israelis vor Raketenangriffen. Waren die Warnmechanismen bisher nicht ausreichend?

Ari Sprung: Es gibt Gemeinden in Israel, die sind so weit außerhalb, dass sie die Sirenen nicht hören können. Oder jemand steht unter der Dusche: Dann hört er sie auch nicht. Jetzt kann er sein Mobiltelefon mit ins Bad nehmen.

Netzkolumnistin: Wie funktioniert Red Alert?

AS: Immer wenn eine Rakete abgefeuert wird, gibt es einen Sirenenalarm in Israel – unabhängig davon, ob die Rakete vor dem Einschlag durch unser Abwehrsystem „Iron Dome“ abgefangen wird. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Jedes Mal, wenn eine Sirene heult, schlägt auch die App Alarm. Manchmal war die App sogar schneller als der Sirenenalarm in den Städten.

Netzkolumnistin: Red Alert warnt Israelis also in Echtzeit vor Raketenangriffen. Woher kommen die Daten?

AS: Ich habe eine Website gefunden, die in Echtzeit Daten über die Raketenangriffe veröffentlicht und habe den Betreiber, Kobi Snir, kontaktiert. Red Alert zieht alle zwei Sekunden die Daten von seiner Website – woher die kommen, kann ich aber nicht verraten.

Netzkolumnistin: Wie bist du auf die Idee mit Red Alert gekommen?

AS: Ich bin ein Programmierer und das, was ich am besten kann, ist es, Apps zu entwickeln. Ich habe überlegt, was jemand mit meinem Wissen tun kann, um das Leben der Israelis im Süden nahe Gaza leichter zu machen. Da hatte ich die Idee einer App, die vor Raketenangriffen warnt. Die App hatte ich schon während der Operation „Pillar of Defense“ 2012 entwickelt. Während des Gazakriegs im Sommer sind die Downloadzahlen dann sprunghaft gestiegen.

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Ari Sprung.

Netzkolumnistin: Wie viele Downloads gibt es?

AS: Eine Million Israelis haben Red Alert runtergeladen. Das heißt: Jeder 8. Israeli hat die App. Vor dem Gazakrieg waren es vielleicht 100.000 Nutzer. Richtig groß wurde die App, als es den ersten Alarm in Tel Aviv gab, im Juli war das. An den Downloadzahlen lässt sich auch der Kriegsverlauf ablesen. Es gab im Sommer immer wieder Vereinbarungen zu einem Waffenstillstand. Sobald sie gebrochen wurden, sie die Downloadzahlen wieder sprunghaft angestiegen. Interessant ist auch: Etwa eine halbe Million Menschen außerhalb Israels haben die App runtergeladen.

Netzkolumnistin: Was denkst du, warum ist die App auch für Ausländer interessant ist?

AS: Das sind oft Leute, die Familie in Israel haben und wissen wollten, was im Land passiert. Menschen aus der ganzen Welt haben durch die App besser verstanden, was in Israel los ist. Man hört von Raketen und Sirenen, aber Red Alert hat für viele Menschen außerhalb des Landes erstmals greifbar gemacht, wie die Situation hier ist, wie viele Raketen eigentlich auf Israel gefeuert wurden aus Gaza.

Netzkolumnistin: Was macht man bei einem Alarm?

AS: Das kommt darauf an, wo man gerade ist. Wenn es einen Bunker in der Nähe gibt, geht man dort hin. Dafür hat man 15 bis 90 Sekunden Zeit.Wenn man keinen Bunker in der Nähe hat, versucht man, von Wänden fernzubleiben und geht unter eine Treppe. Der Alarm ist furchteinflößend, diese Sirene.

Netzkolumnistin: Welche Reaktionen gab es von den Nutzern?

AS: Ich habe viele Rückmeldungen bekommen. Ein Mann hat mir erzählt: ‚Deine App hat mich fast meine Ehe gekostet!‘. Ich habe ihn gefragt, wie das sein kann. Dann hat sich herausgestellt: Er hatte sich die App heruntergeladen und so eingestellt, dass alle Raketenangriffe auf ganz Israel vermeldet werden. Also auch ein Alarm, der ihn in seiner Region gar nicht betrifft. Als er dann eines Tages nichtsahnend unter der Dusche stand, ging die App los. Die ganze Familie ist in den Bunker geflüchtet, bevor sie gemerkt haben, dass es ein Fehlalarm war für sie. Als er aus der Dusche kam, stand er einer sehr wütenden Ehefrau gegenüber.

Netzkolumnistin: Sind diese ständigen Alarme übers Handy nicht auch eine psychische Belastung?

AS: Ja. Manche haben die App wieder deinstalliert, weil sie die App verrückt gemacht hat mit den ständigen Alarmen. Es gab ja auch tausende von Alarmen. Man kann aber einstellen, welche Alarme man kriegt, für welche Regionen. Wer sich nur für seinen Heimatort interessiert, bekommt von anderen Regionen nichts mit.

Netzkolumnistin: Hast du mal was von der israelischen Armee gehört, wie die deine Idee finden?

AS: Die Armee hat sogar in einem Tweet die Israelis aufgefordert, sich meine App zu holen.

Netzkolumnistin: Deine App konnte erst durch einen Krieg erfolgreich werden. Belastet das auch?

AS: Egal, wohin ich gehe, sagen mir die Israelis: Deine App rettet Leben. Das ist schön zu hören. Ich verdiene an der App nichts, ich habe alles in meiner Freizeit programmiert und sie ist kostenlos.

Netzkolumnistin: Eine kleine App wird plötzlich zum Download-Hit: War das technisch kein Problem?

AS: Meine größte Herausforderung war das ‚Scaling‘. Vor dem Gazakrieg hatten wir wenige Nutzer im Süden. Plötzlich wollten Hunderttausende die App. Wenn eine Push-Nachricht einer Nachrichtenseite 10 Sekunden später auf dem Handy aufpoppt, ist das kein Problem. Wenn bei ‚Red Alert‘ die Alarme nicht in Echtzeit ankommen, kann das über Leben und Tod entscheiden. Wir mussten größere Sever anmieten und den Code optimieren, aber es hat geklappt.

Netzkolumnistin: Während des Gazakriegs bist du mit der Yo-App eine Kooperation eingegangen. Man konnte plötzlich auch ein Yo geschickt bekommen, sobald es einen Alarm gab.

AS: Das hat ziemlich große Aufmerksamkeit erfahren. Yo war diese einfache App, die eigentlich nichts konnte und trotzdem ein Riesenfunding bekommen hat. Und dank Red Alert konnte sie plötzlich Menschenleben retten. Jetzt arbeite ich sogar bei Yo als Entwickler. Ich glaube, dass mobile Notifications eine große Zukunft haben. Niemand hat Lust, sich ewig durch sein Telefon zu klicken.

Netzkolumnistin: Waren die Red-Alert-Yos die einzige sinnvolle Anwendung für Yo?

AS: Nein. Am Anfang konnte man nur Yos verschicken. Aber die App hat sich weiterentwickelt und kann jetzt mehr Informationen vermitteln. Man kann auch Links verschicken. Nutzer können sich zum Beispiel über ein Yo mitteilen lassen, wo der nächste Starbucks ist. Die Anwendungsmöglichkeiten sind endlos. Man kann auch ein Yo kriegen, eine Stunde bevor es am Aufenthaltsort anfängt zu regnen.

Netzkolumnistin: Was passiert mit Red Alert nach dem Gazakrieg?

AS: Die Technologie ist auch für andere Länder interessant, nicht nur Israel. Die Japaner sind auf mich zugekommen. Zuerst dachte ich, es geht ihnen darum, ein Frühwarnsystem für Erdbeben zu etablieren. Das war es aber nicht. Wenn Nordkorea eine Rakete auf Südkorea abfeuert, dann wollen die Japaner das wissen. Das war es, warum sie ‚Red Alert‘ interessant fanden. Auch ein Land in Südamerika ist interessiert. Welches, darf ich nicht sagen. Sie wollen es für Erdbeben und Tsunamis einsetzen. Ich hoffe, wir Israelis brauchen die App nicht so bald wieder.

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Hinweis: Dieses Interview ist auch auf www.netzpiloten.de erschienen.

Wer sich über den Gazakrieg informieren will, kann das zum Beispiel bei der Deutschen Welle tun. Die Grausamkeit eines Krieges lässt sich nicht in Zahlen erfassen. Hier wird jedoch unter Rückbezug auf UN-Material über die Opferzahlen informiert.

Aufmacherbild: Abgefangene Raketen über Aschkelon, Israel. IsraelMFA via Flickr / CC BY-NC 2.0