Die Snowden-Enthüllungen und die NSA-Affäre interessieren in Israel kaum jemand. Jonathan Klinger ist Anwalt und kämpft für ein freies Netz ohne Überwachung. Ich habe ihn in Tel Aviv getroffen und mit ihm über die Überwachung im Land gesprochen. Die Lage ist düster, sagt er im Interview.

Netzkolumnistin: Werden die Menschen hier überwacht?

Klinger: Israels Gesellschaft hat keine Geheimnisse. Alles ist überwacht.

Netzkolumnistin: Warum regt das niemanden auf?

Klinger: Die Menschen hier haben kein Bewusstsein, wie wichtig Privatsphäre ist. Das ist das Hauptproblem. Es zeigt sich schon in Details aus dem Alltag: Wenn ein Unbekannter einen Israeli anruft und nach der Kontonummer fragt, dann kriegt er sie. Deutsche würden solche sensiblen Informationen nie rausrücken. Die Israelis sprechen auch offen darüber, wie viel Geld sie verdienen, wie viel Miete sie zahlen.

Netzkolumnistin: Wie hat die israelische Bevölkerung auf die NSA-Affäre reagiert?

Klinger: Die Snowden-Enthüllungen interessieren niemanden hier. Jeder wusste schon vorher, dass es so was gibt.

Netzkolumnistin: Dabei sind unter den Helfern der NSA auch Firmen mit Verbindung nach Israel. Ich spreche von Narus Systems und Verint. Erwartbar oder Zufall?

Klinger: Israels High-Tech-Industrie hat hier im Land laxe gesetzliche Vorgaben. Niemand zwingt sie, Dinge zu entwickeln, nur weil sie legal sind. Wenn man sich die Firmen aber ansieht, dann dreht sich ihr Geschäft meistens um Glücksspiel, invasive Werbeformen, nationale Sicherheit – und Pornografie natürlich.

Netzkolumnistin: Wie rechtfertigt Israel die Überwachung?

Klinger: Es heißt immer, es geht um Sicherheit. Aber das ist nur vorgeschoben.

Jonathan Klinger ist ein israelischer Anwalt und Internetaktivist. Foto: Hadar Raizman via J. Klinger

Jonathan Klinger ist ein israelischer Anwalt und Internetaktivist. Foto: Hadar Raizman via J. Klinger

Netzkolumnistin: Ist Israel schlimmer in Sachen Überwachung als Deutschland?

Klinger: Ja. Deutschland hat viel bessere Gesetze. Ihr Deutschen könnt froh sein. Das Land kann auch mehr Druck ausüben auf große, internationale Firmen wie Google oder Facebook. Die reagieren, wenn Deutschland sich beschwert. Wir Israelis können die Geschäftspraktiken nur akzeptieren. Es ist ein kleiner Markt.

Netzkolumnistin: Was sagen die Gesetze?

Klinger: Es gibt den Wiretapping Act aus den 70er Jahren. Da steht drin, dass die Polizei Konversationen abhören darf, wenn es eine richterliche Erlaubnis gibt. Unter Konversationen fallen auch elektronische Kommunikationsformen wie Mails. Im Notfall geht es auch ohne Richter. Dann gibt es den Metadata Act von 2007. Da steht drin, wie die Polizei Metadaten bekommt. Wichtigste Anwendungsfälle sind GPS-Daten von Smartphones zu Ortungszwecken und die Anrufhistorie. Drittens können die Dienste auch Informationen von den Providern anfordern. Relevant ist dann im weiteren Sinne noch das Gesetz über Durchsuchung und Beschlagnahmung.

Netzkolumnistin: Wie transparent müssen der Staat und seine Dienste vorgehen?

Klinger: In vielen Fällen wird nicht darüber gesprochen, mit welchen Mitteln die Informationen gesammelt worden sind. Die Polizei handelt dabei auch nicht immer genau nach Vorschrift, denke ich.

Netzkolumnistin: Gibt es Zahlen zur Überwachung in Israel?

Klinger: Zahlen müssen nicht veröffentlicht werden. Aber aus dem Jahr 2009 ist beispielsweise bekannt, dass die Polizei 9.000 Anfragen an Internet- und Mobilfunkprovider gestellt hat. Da geht es nicht immer um schwere Straftaten. In etwa 2.000 dieser Anfragen ging es um den Vorwurf, die öffentliche Ordnung gestört zu haben. Dahinter verbergen sich oft politisch motivierte Vorwürfe gegen Aktivisten.

Netzkolumnistin: Und wie sich diese Zahl entwickelt hat, dazu gibt es keine Informationen?

Klinger: Nein. Das gute für uns Bürger hier ist: Die Provider sind gierig. Für jede Anfrage verlangen die 300 Schekel [etwa 65 Euro, Verf.]. Das dürfte den Einsatz dieses Mittels zumindest dämpfen.

Netzkolumnistin: Wie ist die Situation für Palästinenser?

Klinger: Die allermeisten Palästinenser haben keinen israelischen Pass, also auch keine Bürgerrechte. Es gibt nur Gerüchte. Vor kurzem wurde ein Protestbrief israelischer Soldaten bekannt. Sie beschwerten sich, dass sie Palästinenser abhören mussten. Da ging es auch darum, herauzufinden, ob jemand schwul ist, also um sehr private Informationen.

Netzkolumnistin: Gibt es die Chance, dass sich in der Politik bald etwas ändert?

Klinger: Dazu ein Beispiel: Vor ein paar Wochen wollte die Abgeordnete Orly Levy-Abecassis ein Gesetz in der Knesset einbringen, das die App Secret verbietet. Wie soll das denn umgesetzt werden? Wir mussten ihr erst mal erklären, dass das nicht geht, Internetnutzern zu verbieten, welche Angebote sie nutzen.

Netzkolumnistin: Über welche Entwicklung in Israel machst du dir gerade am meisten Sorgen?

Klinger: Die Biometrie-Datenbank, keine Frage. Das ist eine furchtbare Sache. Das Gesetz dafür wurde 2009 verabschiedet und wir sind gerade noch in einer Art Testphase bis Juni 2015. Wenn die Datenbank dann weiterbesteht, können Polizei, Shin Bet und Mossad auf die Daten zugreifen. Und da steht viel drin. Dein Name, dein Foto, dein Fingerabdruck. Alle sind erfasst. Es gibt ja jetzt schon eine Datenbank, in der alle Israelis aufgeführt sind. Die wird so ungefähr jedes Jahr von Hackern geleakt. Das verdeutlicht das Problem solcher Datensammlungen.

Netzkolumnistin: In Israel sehe ich unglaublich viele Überwachungskameras. Wie ist das reguliert?

Klinger: Die sind oft nicht legal – obwohl sie von der Stadt oder Gemeinde aufgestellt werden. Eigentlich dürften die in vielen Fällen gar nicht da stehen. Außerdem verstoßen viele Kameras gegen die Regeln der Behörden. Überwachungskameras an öffentlichen Orten müssen gekennzeichnet sein. Die Bürger müssen Informationen darüber bekommen, wer die Kamera aufgestellt hat und wo die Informationen gespeichert werden. Das fehlt oft.

Was sagt ihr zu Jonathan Klingers Einschätzungen? Welche Fragen zur Überwachung in Israel wollt ihr gerne beantwortet haben? Postet eure Fragen und Anregungen in den Kommentaren!

Aufmacherbild: Überwachungskamera in Silwan, Ostjerusalem. Foto: Eva Schulz